Von Zeit zu Zeit kam es vor, dass er in andächtigen Momenten den kleinen durchsichtigen Kasten aus seiner Halterung löste und, mit fast liebevoller Zärtlichkeit, sanft über das Gehäuse strich. Im Inneren befand sich sein wichtigster Besitztum – echte Erde. Sorgsam verwahrt, hermetisch versiegelt und doch nur wenige Millimeter entfernt. Er hatte sie damals von seiner Mutter bekommen, in einem anderen Leben, mit einem anderen Namen.
Damals war er Lasse van Doorn und lebte gemeinsam mit seiner Mutter auf der Erde, genauer in der BeNeLux-Megacity. Seine Mutter, die leitende Botanikerin der BeNeLux-Megacity Antje van Doorn, hatte sie ihm zu seinem 18. Geburtstag geschenkt. Es war einer dieser Momente, die er daraufhin nie wieder vergessen konnte. Als Kind war er oft durch die Aeroponischen Anlagen gewandert, welche unter der Kontrolle seiner Mutter, die Megacity mit den grundlegendsten Nahrungsmitteln versorgten. Schnell war er mit den Feinheiten vertraut geworden, wusste bald, welcher Komplex mit welchen ganz speziellen Macken dienen konnte und vor allem wusste er, wie er den strengen Blicken der Kontrolleure entkommen konnte. Nur den Augen und dem Willen seiner Mutter konnte er nicht entfliehen. Somit war auch schnell klar, dass er in ihre Fußstapfen würde treten müssen und sich selbst der Botanik und Nahrungsversorgung verschrieben sollte. Vielleicht war diese kleine Gabe kostbarer echter Erde damals als Versöhnung oder Bestechung gedacht. Was immer es war, er hatte sie seitdem nicht wiedergesehen und hatte damals nicht danach gefragt. Das Verhältnis war zwar immer respektvoll, jedoch nie besonders herzlich gewesen.
Gemäß dem Wunsch seiner Mutter wurde er in den kommenden Jahren auf den Orbitalstationen des inneren Ringes zum Botaniker mit Schwerpunkt Aeroponik und Nahrungsversorgung ausgebildet. Beflügelt durch sein umfangreiches Vorwissen und dem Wunsch, dem kleinen Kästchen in seiner Kabine gerecht zu werden, beendete er seine Ausbildung in Musterzeit und mit Auszeichnung. Bei der abschließenden Beurteilung und Auswahl der Einsatzgebiete kam er jedoch das erste Mal vom angedachten Pfad seiner Mutter ab. Statt der sicherlich geplanten und vorbereiteten Stelle in einer Megacity der Erde nahm er die erste Stelle als Kolonie-Unterstützer an, die er finden konnte. Zu dieser Zeit gab es etliche Kolonien der mittleren Welten, welche bei den Konzernen um Unterstützung im Aufbau der Infrastruktur und Grundversorgung baten, dass er schnell einem entsprechenden Trupp zugeteilt wurde und in den darauffolgenden Jahren ein halbes Dutzend Kolonien maßgeblich dabei unterstützte, eine autarke Versorgung mit Nahrungsmitteln zu erlangen. Da er stets nach dem Grundsatz operierte, dass jeder Tropfen Wasser und jedes Korn Granulat zu kostbar sei, um es zu verschwenden, erlangte bei den Konzernen und Kolonien bald einen gewissen Ruf. Es hieß, er könne selbst den unwirtlichsten Gegenden mit einer handvoll Modulen in wenigen Tagen einen Salatkopf abringen. Letztendlich perfektionierte er nur die Techniken, welche er seit Kindestagen gelernt hatte, doch führte in dieser Ruf zu einem zweiten, einschneidenden Erlebnis.
Es geschah in der Pause zwischen zwei Missionen auf dem Mond eines nahezu namenlosen Gasriesen im äußeren Ring, am Rande der kolonisierten Welt. Er war mittlerweile über 60, doch überkam ihn immer noch ein jugendlicher Elan, sobald er einen seiner Gärten betreten konnte. Während besagter Pause spazierte er zur Zerstreuung durch eine der botanischen Lagerhallen, wo nach seiner Anweisung sämtliche Setzvorräte geordnet aufbewahrt wurden. Als er hinter sich die Sicherheitstür hörte, drehte er sich interessiert um und blickte in das Gesicht eines schlicht gekleideten Mannes, welcher ungefähr in seinem Alter war und langsam auf ihn zukam. Ein Detail am Antlitz dieses Mannes war jedoch keinesfalls zu übersehen, er hatte auf der Stirn das Bild eines stilisierten Lorbeerkranzes. Ob es gelasert oder anderweitig dort auf beziehungsweise unter die Haut gebracht wurde, konnte Lasse nicht direkt sagen aber es übte eine gewisse Faszination auf ihn aus. Der Fremde blieb vor ihm stehen und fragte in ruhigem Ton, ob er denn Lasse mit der Erde sei. So kam Lasse van Doorn, der erfahrene Botaniker, mit den Neo-Hellenisten in Berührung.
Auf der Erde nahezu unbekannt, hatte sich diese religiöse Gruppierung nahezu ausschließlich in den Randkolonien etwas verbreitet. Dies lag zum einen an der seit jeher immer stärkeren Abkehr der Menschheit vom Glauben, zum anderen an der etwas ungewöhnlichen Rekrutierungspraxis neuer Mitglieder. Die Neo-Hellenisten suchten sich potenzielle Anwerber selbst aus und kamen auf ausgewählte Individuen zu, nicht andersrum. Darum verbleiben die Hintergründe, Vorstellungen und Riten weitestgehend im Dunklen. Auch wenn jeder Neo-Hellenist klar zu erkennen war, sie trugen alle das Bild des Lorbeerkranzes auf der Stirn, so begegneten die Menschen ihnen doch eher mit Vorsicht, denn Interesse.
Demzufolge sind auch die genauen Umstände nicht bekannt, unter welchen letztendlich Lasse van Doorn zu ihnen konvertierte. Nach der ersten Begegnung im botanischen Lager bat er bei seinen Vorgesetzten um einen Monat unbezahlten Urlaub und wurde daraufhin die nächsten Wochen nicht mehr gesehen. Einen Tag vor Ablauf der Monatsfrist tauchte er wieder auf dem kleinen Mond im Orbit des Gasriesen auf, auf seiner Stirn ein Lorbeerkranz. Wer sehr nah herankam, konnte sehen, dass es kein Laserbild war. Auch wenn die Wundränder höchst professionell geglättet und versorgt wurden, so war bei dieser frischen Arbeit noch ersichtlich, dass sie durch Hitze von Außen entstanden sein musste. Auch wenn er bereits vorher nicht für sein aufbrausendes Gemüt bekannt war, so strahlte er jetzt mehr Ruhe denn je aus.#
Gegenüber seinen Vorgesetzten bat er um eine Versetzung. Er hatte genügend Kolonien dabei geholfen, autark zu werden, er sprach den dringenden Wunsch aus, auf eine Explorer-Mission geschickt zu werden. Zu seinen Beweggründen schwieg er sich aus. Für seine Vorgesetzten begann damit eine Zwickmühle. Niemand konnte und wollte es sich leisten, einen religiösen Fanatiker zu beschäftigen, der im Alter und nach etlichen Jahren in den Kolonien vielleicht schlicht übergeschnappt sein könnte. Andererseits hatte die Konzernleitung durch die Verträge mit den Kolonien und die besonders effiziente Arbeitsweise van Doorns stets satte Gewinne eingefahren und die Auftragsbücher für die nächsten Jahre im Voraus gefüllt. Mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Eigennutz entschied man sich für den optimalen Zwischenweg. Es wurden ein paar Gefallen eingefordert und versprochen und letztendlich wurde Lasse van Doorn aus der Kolonie-Hilfe entlassen und bekam eine Anstellung auf der IPX Magellan von Interplanetary Expeditions, einem nahezu brandneuen Schiff, welches weitere Sternensysteme erforschen soll.
Mit einem letzten Nicken und den Worten: „Ich danke im Namen des Acheron.“ machte sich der neue Chefbotaniker der IPX Magellan auf den Weg in die inneren Ringe, zu seiner neuen Aufgabe.
Charakterbogen:
Geburtsname und Alter: Lasse van Doorn, 62
Religiöser Name: Acheron
Äußeres: Mit 1,80m und knapp über 100kg wirkt er etwas untersetzt, hat jedoch keinen Bauchansatz. Kräftige Arme und ein fester Griff der großen Hände lassen ihn eher an einen Bauern erinnern, auch wenn es diese nicht mehr gibt. Den Schädel hält er kahlrasiert, auf seiner Stirn schimmert rötlich-schwarz ein stilisierter Lorbeerkranz. Im Dienst trägt er die vorgeschriebene Uniform, in seiner Freizeit einfache, eher weite Gewänder. Er strahlt eine natürliche Ruhe aus, welche durch das sichtbare Alter verstärkt wird, durch die deutlich sichtbare Stirnzeichnung jedoch bei weitem nicht auf alle beruhigend wirkt.
Einsatzgebiet: Chefbotaniker der Magellan, Verantwortlich für die Aeroponischen Anlagen an Bord.
Fähigkeiten und Laster:
Er hat schon viele Kolonien gesehen, viele verschiedene Umstände er- und überlebt, aus vielen unterschiedlichen Voraussetzungen das Maximum herausgeholt. In seiner Arbeit ist er genau, strukturiert, pedantisch und vor allem exzellent. Seinen Grundsatz, dass keinerlei Substrat verschwendet werden darf, behält er eisern bei, weshalb er über die Jahre die von ihm verwendeten Systeme zur maximalen Effizienz gebracht hat. Es erfordert außerordentlich viel Kontrolle und manchmal ertappt man ihn dabei, wie er immer wieder unzählige Feineinstellungen nachjustiert aber letztendlich stimmt das Ergebnis. Seinen Mitarbeitern gegenüber verhält er sich großväterlich wohlwollend, achtet jedoch allzeit darauf, dass seine Regeln nicht verletzt oder anderweitig beschmutzt werden. Er sieht die Versorgung mit frischen Produkten als elementare Gabe an und reagiert bestürzt und bisweilen mit verärgerter Abscheu jedem gegenüber, der diese Gabe nicht zu schätzen weiß oder durch irgendwas dafür sorgt, dass der Ablauf signifikant gestört wird.
Insgesamt verbringt er die meiste Zeit des Tages in seinen Gärten und kontrolliert beständig die Zucht und Versorgung seiner Gärten. Abseits davon folgt er einem bisweilen strengen Zeitplan. Jeden Morgen und Abend sieht man ihn für eine halbe Stunde in der Messe sitzend, dabei mit geschlossenen Augen und nur leicht geöffneten Lippen etwas vor sich hin murmelnd. Er lässt sich dabei nie unterbrechen, weder blickt er auf, noch beendet er sein „Gemurmel“. Danach geht er jeweils für eine Stunde in die Sporträume und trainiert für sein Alter recht beachtlich. Eine Sache, die er sich auf den Kolonien angewöhnt hat, um mit den wechselnden Gravitationen klarzukommen. Wann er immer er sonst außerhalb seiner Gärten anzutreffen ist, ist er jederzeit für ein nettes Gespräch zu haben und versucht, seine Lebenserfahrung mit netten Anekdoten einzubringen.
Für übermäßigen Konsum und sinnlosen Einsatz von Technik (z.B. zur Unterhaltung) hat er kein Verständnis, in Ermangelung an Alternativen trifft man ihn jedoch oft in der Messe über einem Book-Pad brütend.
Er ist sich seiner religiösen Eigenart durchaus bewusst und versteht, dass ihm andere auf diesem Weg nicht folgen werden. Wenn jemand ehrliches Interesse hat, skizziert er auch gelegentlich Grundzüge der Neo-Hellenisten, reagiert jedoch verägert, wenn ihn jemand nur als alten Spinner abtut oder sich über seinen Glauben allzu plump lustig macht. An Beziehungen hegt er kein Interesse, erfreut sich jedoch außerordentlich an, in seinen Augen, junger Liebe.