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Thema: Fragen zur Geschichte

  1. #451
    Registrierter Benutzer Avatar von Suite
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    Also halten wir fest: In der Literatur eröffnen sich Perspektiven und Imaginationen für den Rezipienten, die durch (hollywoodeske) Filmgewalt monokultiviert (und dadurch moralisiert etc.) werden. Könnte mir auch nicht vorstellen, dass etwa 1984 jemals halbwegs vernünftig verfilmt werden kann.

    Zu den Zeitzeugen: Ist derart sinnvoll zu integrieren, dass du heute nicht mehr erleben wirst, wie man vier Semester ohne Zeitzeugenberichte durch die Oberstufe rennt (allein schon wegen der Übung der Methode, insb. quellenkritisch) - die Abibox thematisiert das in Q2 z.B. recht breit.

  2. #452
    begossener Pudel Avatar von Des Pudels Kern
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    Zitat Zitat von Suite Beitrag anzeigen
    Also halten wir fest: In der Literatur eröffnen sich Perspektiven und Imaginationen für den Rezipienten, die durch (hollywoodeske) Filmgewalt monokultiviert (und dadurch moralisiert etc.) werden. Könnte mir auch nicht vorstellen, dass etwa 1984 jemals halbwegs vernünftig verfilmt werden kann.
    Das Beispiel eignete sich gut dazu darzustellen, wie ich den Umgang mit solchen Themen empfand. Kanns auch auf Fußballdeutsch vereinfachen: Statt nur über links, auch mal die Tiefe des Raumes nutzen.
    Nehmen wir ruhig mal Orwell: Was würdest du deinen Schülern bei 1984 oder Animal Farm mitgegeben haben wollen? Was steht da auf dem Lehrplan?

    Zu den Zeitzeugen: Ist derart sinnvoll zu integrieren, dass du heute nicht mehr erleben wirst, wie man vier Semester ohne Zeitzeugenberichte durch die Oberstufe rennt (allein schon wegen der Übung der Methode, insb. quellenkritisch) - die Abibox thematisiert das in Q2 z.B. recht breit.
    Wir hatten häufig Besuch von Zeitzeugen bzw Bekannte der hingerichteten Widerstandskämpferin bei uns, nach der die Schule benannt ist. Das war immer ne hochemotionale Angelegenheit. Wir hatten aber nie Zeitzeugen, wie meinen Opa (average Joe), der seinen Dienst bei den Bösen verrichtet hat. Solche Leute wurden nie gefragt, da möglicherweise so das Bild entstanden wäre, dass es tatsächlich, unabhängig von Profiteuren oder Tätern, auch so Leute mit glücklicher Kindheit und später Kriegsdienst gegeben hat. Ich will damit lediglich sagen, dass unsere, bzw die westliche Weltsicht auf vergangene Gesellschaften projiziert wird. Das etwas "ein Kind seiner Zeit" ist und auch als solches zu betrachten ist, wird dabei außen vorgelassen.
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  3. #453
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    Eigentlich ist die Geschichtsschreibung der letzten zwei Jahrzehnte immer stärker auf diese Fragen eingegangen. Anders als beim sozialwissenschaftlichen Schwerpunkt der 70er und 80er-Jahre kommen hier die Zeitzeugen sogar sehr intensiv zu Wort.

    Kennst du das Buch des schwedischen Historikers Peter Englund zum Ersten Weltkrieg? Es heißt "Schönheit und Schrecken" und lässt im Grunde die Beteiligten verschiedener Nationen und Kriegsschauplätze in ihren Tagebucheinträgen zu Wort kommen, wobei er seine einordnenden Bemerkungen auf ein Minimum beschränkt. Ich habe daraus schon häufig einzelne Tagebucheinträge für den Unterricht verwendet, allerdings mit einer etwas intensiveren Einführung. Man kann von Achtklässlern nun einmal nicht erwarten, dass sie so etwas völlig ohne Hilfestellung verstehen. In der J1 (früher Klasse 11) geht das natürlich besser, aber auch hier braucht es gewisse Vorbereitungen.

  4. #454
    Ignoriert Mauern Avatar von Argonir
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    Zitat Zitat von Jon Snow Beitrag anzeigen
    Danke für diese differenzierte, kenntnisreiche Beurteilung des schulischen Geschichtsunterrichts.


    Naja ich hatte wie jeder andere auch gute und schlechte Lehrer. In Geschichte leider auch ein paar Totalausfälle. Eine Lehrerin hat in der Stunde zum 30jährigen Krieg einfach mal die Schweden auf der Seite Bayern-Österreichs eingreifen lassen.
    Im Studium habe ich dann begriffen, wieso jemand ohne Ahnung von Geschichte Geschichtslehrer werden kann. Zum einen bereitet einen die Ausbildung an der Universität in keinster Weise auf die Schule vor. Man lernst - wenn man denn lernt - eine Menge Spezialwissen, welches man im Unterricht kaum brauchen kann, während die großen Überblicke fehlen. Zum anderen war das Studium vor Bologna (ich bin noch ein alter Magister) darauf ausgerichtet, viel Zeit für Selbststudium und eigene Schwerpunkte zu haben. Mit dem Ergebnis, dass man mit einem Minimalaufwand durch das Studium kommen und wenn man beim richtigen Dozenten noch seine Zulassungsarbeit geschrieben hat, trotzdem eine gute Note vorweisen konnte.
    Dazu kommt, dass Deutsch-Geschichte oder Eine Fremdsprache-Geschichte auf Lehramt ein klassischer Ich-Weiß-Nicht-Was-Ich-Studieren-Soll-Studiengang ist, der viele anspricht, die ein leichtes Studium und auf eine Festanstellung mit viel Freizeit hoffen (was ihnen dann aber erstmal im Referendariat ausgetrieben wird). Mit dem Ergebnis, dass in viele Seminaren Leute drin saßen, die kein Interesse an den Themen hatten und nur mit dem nötigstem Minimalaufwand durchkommen wollten. Manche verschleierten das nichtmal und sagten ganz offen bei der Vorstellungsrunde, dass sie kein Interesse haben, das Seminar aber zeitlich passte und sie nur einen Schein brauchen. Als Referat bieten sie dann einen (mit Glück) aufgearbeiteten Wikipediaartikel. Die Härte war, als einer zum Thema "Caesar in Nordafrika" den für "Caesar in Ägypten" vorgelesen hat, und bei dem 20min Referat in 10min fertig war. Der ist damit im übrigen durchgekommen.

    Das sind natürlich Extremfälle, aber ein großer Teil der Lehramtstudenten in Geschichte hatte kein oder nur wenig Interesse an dem Fach. Mein Eindruck ist natürlich subjektiv und ich weiß natürlich nicht, wieviele von denen jetzt letztendlich wirklich Lehrer geworden sind, aber in Verbindung mit den teilweise sehr schlechten Geschichtslehrern, die ich hatte, führt das doch zu gewissen Vorurteilen.

    Ich weiß natürlich, dass es auch andere Fälle gibt: engagierte Lehrer, die für ihr Fach brennen und die einen ausgezeichneten Unterricht bieten. Die muss man durchaus hochachten, denn die gehen nicht den Weg des geringsten Widerstandes.

    Das Laie war vielleicht ein bisschen hart, aber ich wollte damit ausdrücken, dass in der Regel auch der Lehrer nicht selbst forscht, sondern im Idealfall aktuelle Forschungen anderer aufgreift und dann in entsprechender Form an seine Schüler weitergibt. Also er ist damit wie der normale interessierte Laie Konsument von Wissenschaft und nicht Produzent, auch wenn er durch sein Studium vielleicht einen anderen Zugang zu den Sachen hat.


    Zum Thema Zeitzeugen:
    Das ist ein ganz schwieriges Thema. Nicht wenige Zeithistoriker lehnen Zeitzeugen generell ab und der Rest ist zumindest stark kritisch gegenüber ihnen eingestellt. Das Problem dabei ist, dass das menschliche Gedächnis trügerisch ist. Der Mensch nimmt stark subjektiv wahr, wobei er zusätzlich mit der Zeit seine Erinnerung - meist zum positiven hin - verfälscht. Dazu kommt, dass er seine Vergangenheit immer mit seinem aktuellen Wissen und seiner aktuellen Konditionierung wahrnimmt und beurteilt. Was anderes sind natürlich Zeitdokumente, wie Tagebucheinträge, die deutlich besser von früher erzählen können, da sie sich nicht nachträglich verfälschen.

    Wenn man einen Holocaust-Überlebenden als Zeitzeugen in die Schule einläd, dann dient das nicht dazu Geschichtswissen zu schaffen. Das lernen die Schüler besser im Unterricht. Der Zeitzeuge gibt dem Schrecken aber ein Gesicht und spricht die Schüler auf einer emotionalen Ebene an. Eine solche Veranstaltung hat den Zweck die demokratische Gesinnung und eine positive Einstellung zu Menschenrechten zu fördern.
    Bitte weitergehen, es gibt hier nichts mehr zu lesen!

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  5. #455
    Registrierter Benutzer Avatar von Suite
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    Aber das ist doch genau das, was die Schüler lernen sollen anstatt der viel zu vielen Sachkompetenzen: Multiperspektivität (wie gehe ich mit solchen Quellen um?), Quellenwert, Deutungen von Prozessen, Vorgängen und Ereignissen sowie die Reflexion darüber. Wie "erinnert" Mensch sich an Dinge? Darum geht es doch, und nicht um die Frage, ob etwas "richtig" oder "falsch" erzählt wurde. "Wissen schaffen" ist das, was heute immer stärker in den Hintergrund gestellt wird. Das kann man nun so oder so sehen, ist aber bildungspolitischer Konsens. Daher sind Zeitzeugen in vielerlei Hinsicht ideal im Geschichtsunterricht und ich gebe da Pudel Recht, dass der einfache Soldat ein ebenso starkes Anrecht gehabt hätte wie die massenvergewaltigte junge Frau aus Ostpreußen, in den Schulen im Unterricht eingebunden zu werden.

  6. #456
    Ignoriert Mauern Avatar von Argonir
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    Zitat Zitat von Suite Beitrag anzeigen
    Aber das ist doch genau das, was die Schüler lernen sollen anstatt der viel zu vielen Sachkompetenzen: Multiperspektivität (wie gehe ich mit solchen Quellen um?), Quellenwert, Deutungen von Prozessen, Vorgängen und Ereignissen sowie die Reflexion darüber. Wie "erinnert" Mensch sich an Dinge? Darum geht es doch, und nicht um die Frage, ob etwas "richtig" oder "falsch" erzählt wurde. "Wissen schaffen" ist das, was heute immer stärker in den Hintergrund gestellt wird. Das kann man nun so oder so sehen, ist aber bildungspolitischer Konsens. Daher sind Zeitzeugen in vielerlei Hinsicht ideal im Geschichtsunterricht und ich gebe da Pudel Recht, dass der einfache Soldat ein ebenso starkes Anrecht gehabt hätte wie die massenvergewaltigte junge Frau aus Ostpreußen, in den Schulen im Unterricht eingebunden zu werden.
    Zeitzeugen haben schicht und ergreifend im Geschichtsunterricht zur Vermittlung von Wissen nichts verloren. Ihr Quellenwert geht gegen null. Was der Opa vom Krieg erzählt mag zwar für die Angehörigen ganz interessant sein, aber für den Historiker ist das völlig irrelevant. Eine Ausnahme bilden maximal Personen der Zeitgeschichte, aber mit denen ist der Umgang auch nicht ganz einfach und übersteigt definitiv das Niveau eines normalen Schülers bei weitem. Da braucht es Kenntnisse aus den Archiven, um die Aussagen zu verifizieren und einordnen zu können.

    "Multiperspektivität (wie gehe ich mit solchen Quellen um?), Quellenwert, Deutungen von Prozessen, Vorgängen und Ereignissen sowie die Reflexion darüber" sind zwar schöne Ziele, brauchen aber in der Geschichte immer als Grundlage die Fakten. Erst muss ein Rahmen geschaffen werden von sicherem Wissen, auf dem man dann aufbauen kann. Bevor ich über gesellschaftliche Veränderungen im Athen des 5. Jh. v. Chr. reden kann muss ich mir erstmal die Daten und Fakten der Perserkriege und des Peleponnesischen Krieges anschauen. Bevor ich über Augustus arbeite muss ich mir als erstes die Kerndaten seiner Regierungszeit anschauen. Für diese unstrittigen Fakten brauche ich noch keine Quellenkritik und nichts, aber sie geben mir den Halt den ich brauche, um weitere Quellen überhaupt gewichten zu können. Im nächsten Schritt muss ich alle für mein Thema relevanten Quellen untersuchen und zu einem Gesamtbild zusammenzupuzzeln. Jetzt erst findet eine Gewichtung der Quellen statt, wobei ich jede Abwertung mit anderen Quellen begründen muss. Ich würde behaupten, dass in der Schule bei zwei Stunden pro Woche und einem Pensum, dass verlangt in einem Jahr vom alten Ägypten bis ins Mittelalter durchzukommen, schlicht die Zeit dazu fehlt, den Schülern richtige Quellenkritik beizubringen. Das bekommen auch haufenweise Studenten und sogar einige Doktoranden nicht richtig hin.

    Ganz falsch ist es dagegen Schülern Quellenkritik anhand eines Zeitzeugen beibringen zu wollen, der keine akzeptable Quelle ist. Da ist ein Tagebucheintrag eines Soldaten aus der Zeit deutlich besser. Wenn der Lehrer dann noch fähig ist, den Schülern die Probleme der subjektiven Sicht zu vermitteln und vielleicht noch ein Dokument mit einer ganz anderen Sicht auf die Dinge vorlegen kann, dann wird das eine gewinnbringende und interessante Unterrichtsstunde.
    Bitte weitergehen, es gibt hier nichts mehr zu lesen!

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  7. #457
    Zurück im Norden
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    Zitat Zitat von Argonir Beitrag anzeigen



    Kein Problem! Auch wenn ich selbst Deutsch und Geschichte auf Lehramt studiert habe, kann ich dir im Bezug auf das Studium nicht widersprechen. Ich habe auch noch nach der PO von 2001 studiert (also das gewöhnliche Staatsexamen), und fand die Chancen, die sich aus den relativ wenigen Pflichtveranstaltungen und der großen Zahl von Übungen, Seminaren und Repetitorien ergaben, sehr schön. Natürlich konnte man so etwas auch ausnutzen, aber das hing (und hängt) zum Teil auch mit Dozenten zusammen, die keinen Ärger wollten und im Grunde jedes Referat und jede Hausarbeit durchgehen ließen (bis auf die Pädagogik- und EPG-Scheine zählten die Noten der Semesterprüfungen und Seminarscheine ja nicht zum Gesamtschnitt dazu). Leider hast du auch mit deiner Einschätzung recht, dass diese Studenten sich als Lehrer häufig nicht viel anders verhalten und nach dem Ref kaum mehr Interesse daran haben, etwas weiterzugeben und beispielsweise lieber Filme zeigen. Das ist aber kein Problem des Schulunterrichts, sondern allenfalls eines der Aufsicht.

    Geschichte wird in BW bereits ab Klasse 6 unterrichtet. Da ist es für Quellenkritik etc. normalerweise zu früh (auch wenn man auch den jüngeren Schülern schon verständlich machen kann, dass beispielsweise Cäsar nicht immer objektiv berichtet, wenn er über den Gallischen Krieg schreibt ). Später kann man das natürlich immer mehr einbeziehen, und ich habe den Eindruck, dass das Grundkonzept auch in der Mittelstufe schon verstanden wird - zumindest von denen, die aufpassen . Ich benutze übrigens gerade deshalb sehr gern Quellen mit sehr unterschiedlicher Blickrichtung, denn dann wird unmittelbar deutlich, dass nicht beide die realen Ereignisse widerspiegeln können.

    Zu den Problemen mit Zeitzeugen hast du ja schon einiges geschrieben. Dazu kommt auch noch, dass das menschliche Gedächtnis manchmal Erinnerungen an Geschehnisse "produziert", die eigentlich auf Erzählungen Dritter beruhen. Es ist also durchaus möglich, dass ein Weltkriegsveteran ehrlich überzeugt ist, bei einem Ereignis dabei gewesen zu sein (und darüber berichten zu können), obwohl er davon nur von Kameraden gehört hat. Inzwischen dürfte es aber ohnehin gar nicht mehr so einfach sein, in einer beliebigen Klasse zufällig einen (Ur)Opa zu finden, der im Krieg gekämpft hat oder in einem Lager eingesperrt war und körperlich und geistig rege genug ist, darüber vor einer Gruppe junger Menschen zu berichten.

  8. #458
    begossener Pudel Avatar von Des Pudels Kern
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    Zitat Zitat von Argonir Beitrag anzeigen
    Wenn man einen Holocaust-Überlebenden als Zeitzeugen in die Schule einläd, dann dient das nicht dazu Geschichtswissen zu schaffen. Das lernen die Schüler besser im Unterricht. Der Zeitzeuge gibt dem Schrecken aber ein Gesicht und spricht die Schüler auf einer emotionalen Ebene an. Eine solche Veranstaltung hat den Zweck die demokratische Gesinnung und eine positive Einstellung zu Menschenrechten zu fördern.
    Genau bei diesen Zeitzeugen entsteht aber eine Art "Diktum der Unfehlbarkeit". Es geht mir hierbei um die Sicht des Schülers und gar nicht mal um den Wert aus Historikersicht. Wenn ein Opfer berichtet, traut sich selbst ein Jon Snow nicht, behaupte ich mal, vor versammelter Schülermannschaft zu widersprechen. Es besteht stillschweigender Konsens.
    Dadurch wird Objektivität von Anfang an unterminiert bzw spielt sie gar keine Rolle und es entsteht unwillkürlich der Eindruck einer Propagandaveranstaltung; wenn auch im Sinne von "gut gemeint". Jedoch wird durch die Abgrenzung (vermeintlicher) Täter - der aber gar nicht zu Wort kommt - und Opfer eine klare Rollenverteilung vorgenommen.
    Dass aber auch beispielsweise vermeintliche "Täter" zugleich auch Opfer sein können oder durch ihre Taten ihr Leben lang gezeichnet werden, wird außen vor gelassen.
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  9. #459
    Rebellenschreck Avatar von Großadmiral Thrawn
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    Auch wenn es leicht offtopic ist, aber gerade zum Thema Zeitzeugen gab es in den 60ern einen Skandal, als in Schleswig Holstein Karl Dönitz als Zeitzeuge eine schulische Veranstaltung in seinen monoperspektivischen Vortrag über den Zweiten Weltkrieg verwandelt hatte und keiner einschritt um ihn aufzuhalten. Im Rahem des Geschichtswettbewerbes des Bundespräsidenten wurde dafür glaube ich eine Schülerarbeit zu dem Thema ausgezeichnet.
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  10. #460
    Ignoriert Mauern Avatar von Argonir
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    Zitat Zitat von Des Pudels Kern Beitrag anzeigen
    Genau bei diesen Zeitzeugen entsteht aber eine Art "Diktum der Unfehlbarkeit". Es geht mir hierbei um die Sicht des Schülers und gar nicht mal um den Wert aus Historikersicht. Wenn ein Opfer berichtet, traut sich selbst ein Jon Snow nicht, behaupte ich mal, vor versammelter Schülermannschaft zu widersprechen. Es besteht stillschweigender Konsens.
    Dadurch wird Objektivität von Anfang an unterminiert bzw spielt sie gar keine Rolle und es entsteht unwillkürlich der Eindruck einer Propagandaveranstaltung; wenn auch im Sinne von "gut gemeint". Jedoch wird durch die Abgrenzung (vermeintlicher) Täter - der aber gar nicht zu Wort kommt - und Opfer eine klare Rollenverteilung vorgenommen.
    Dass aber auch beispielsweise vermeintliche "Täter" zugleich auch Opfer sein können oder durch ihre Taten ihr Leben lang gezeichnet werden, wird außen vor gelassen.
    Das Opfer auch Täter sein können, geschenkt, aber darum geht es bei solchen Veranstaltungen auch gar nicht. Diese sind per se dazu da, die Schüler gegen die Machenschaften des Dritten Reiches einzunehmen. Das Referat dazu unternimmt eine Person, die aufgrund ihres Lebenslaufes eine gewisse Autorität in diesem Bereich aufweisen kann. Das kann man Propaganda nennen oder auch nicht. Die "Gegenseite" ebenfalls einzuladen wäre in diesem Sinne kontraproduktiv.

    Ein Gewinn in dem Sinne, dass sich die Schüler danach eine eigene Meinung bilden können, wäre das aber auch nicht, denn zum eigene Meinung bilden taugen diese Art von Zeitzeugengesprächen in keinster Weise. Willst du, dass sich die Schüler selbst und unabhängig eine Meinung über die NS-Zeit bilden, dann halte sie von allen Zeitzeugen fern.
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  11. #461
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    Zitat Zitat von Argonir Beitrag anzeigen
    Zeitzeugen haben schicht und ergreifend im Geschichtsunterricht zur Vermittlung von Wissen nichts verloren. Ihr Quellenwert geht gegen null. Was der Opa vom Krieg erzählt mag zwar für die Angehörigen ganz interessant sein, aber für den Historiker ist das völlig irrelevant. Eine Ausnahme bilden maximal Personen der Zeitgeschichte, aber mit denen ist der Umgang auch nicht ganz einfach und übersteigt definitiv das Niveau eines normalen Schülers bei weitem. Da braucht es Kenntnisse aus den Archiven, um die Aussagen zu verifizieren und einordnen zu können.

    "Multiperspektivität (wie gehe ich mit solchen Quellen um?), Quellenwert, Deutungen von Prozessen, Vorgängen und Ereignissen sowie die Reflexion darüber" sind zwar schöne Ziele, brauchen aber in der Geschichte immer als Grundlage die Fakten. Erst muss ein Rahmen geschaffen werden von sicherem Wissen, auf dem man dann aufbauen kann. Bevor ich über gesellschaftliche Veränderungen im Athen des 5. Jh. v. Chr. reden kann muss ich mir erstmal die Daten und Fakten der Perserkriege und des Peleponnesischen Krieges anschauen. Bevor ich über Augustus arbeite muss ich mir als erstes die Kerndaten seiner Regierungszeit anschauen. Für diese unstrittigen Fakten brauche ich noch keine Quellenkritik und nichts, aber sie geben mir den Halt den ich brauche, um weitere Quellen überhaupt gewichten zu können. Im nächsten Schritt muss ich alle für mein Thema relevanten Quellen untersuchen und zu einem Gesamtbild zusammenzupuzzeln. Jetzt erst findet eine Gewichtung der Quellen statt, wobei ich jede Abwertung mit anderen Quellen begründen muss. Ich würde behaupten, dass in der Schule bei zwei Stunden pro Woche und einem Pensum, dass verlangt in einem Jahr vom alten Ägypten bis ins Mittelalter durchzukommen, schlicht die Zeit dazu fehlt, den Schülern richtige Quellenkritik beizubringen. Das bekommen auch haufenweise Studenten und sogar einige Doktoranden nicht richtig hin.

    Ganz falsch ist es dagegen Schülern Quellenkritik anhand eines Zeitzeugen beibringen zu wollen, der keine akzeptable Quelle ist. Da ist ein Tagebucheintrag eines Soldaten aus der Zeit deutlich besser. Wenn der Lehrer dann noch fähig ist, den Schülern die Probleme der subjektiven Sicht zu vermitteln und vielleicht noch ein Dokument mit einer ganz anderen Sicht auf die Dinge vorlegen kann, dann wird das eine gewinnbringende und interessante Unterrichtsstunde.
    Quellenwert und "Wissensvermittlung" sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. Was macht ein Ereignis, einen Sachverhalt denn zum "Fakt" (lat. factum)? Der ist doch oft genauso gedeutet und konnotiert, was heute als vollkommen objektiv dargestellt wird. Die Schüler können nicht annähernd alles Notwendige lernen, um eine historisch vollkommen fundierte Quelleninterpretation anzufertigen. Deswegen müssen sie sich aber trotzdem mit Quellen als domänenspezifischem Material beschäftigen. Ist der enorme Mehraufwand über den Umweg Fachwissen gerechtfertigt gegenüber dem (relativ geringen) Mehrwert, der bei den Produkten herauskommt? Ich weiß es selber nicht, aber die Didaktik sagt Nein. Beispiel aus dem hiesigen Schulbuch, Klasse 5/6: Kurzer Infotext über griechische Kolonisation, dann zwei Herodotstellen, die einander ergänzen und zusammen gesehen einen anderen Sinn ergeben als getrennt. M.E. ist das Einzige, was die Schüler an Vorwisen dafür benötigen, die Kenntnis von der Ursache/den Ursachen der Auswanderung. Ob es 600 oder 400 v. Chr. war, juckt die nicht und macht auch keinen Unterschied (für die meisten). Wie du richtig schreibst, fehlt es an Zeit, ein zusammenhängendes Gesamtbild zu konstruieren. Aus dem Grund muss auch das Fachwissen reduziert werden, weil sonst ein Missverhältnis entsteht.

    Und wieso Zeitzeugen keine akzeptablen Quellen sind, verstehe ich nicht. Sie sind eben nicht dafür geeignet, dass man ihre Aussagen von der Tafel ins Heft abschreibt und dann auswendig lernt, aber das bestreitet ja auch niemand.

  12. #462
    Ignoriert Mauern Avatar von Argonir
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    Zitat Zitat von Suite Beitrag anzeigen
    Quellenwert und "Wissensvermittlung" sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. Was macht ein Ereignis, einen Sachverhalt denn zum "Fakt" (lat. factum)? Der ist doch oft genauso gedeutet und konnotiert, was heute als vollkommen objektiv dargestellt wird.
    Es gibt durchaus einige Sachen, an denen nicht gerüttelt werden kann. Um die Schlacht bei Marathon 490 v. Chr. und das da persische Truppen gegen Griechen kämpften kommt man genauso wenig drum herum, wie dass Hitler 1939 in Polen einmarschieren ließ. Von diesen Grundlagen geht alles aus.
    Dann gibt es noch die communis opinio, die man durchaus hinterfragen kann. Das sollte man aber nicht umbedingt Schülern überlassen.

    Zitat Zitat von Suite Beitrag anzeigen
    Die Schüler können nicht annähernd alles Notwendige lernen, um eine historisch vollkommen fundierte Quelleninterpretation anzufertigen. Deswegen müssen sie sich aber trotzdem mit Quellen als domänenspezifischem Material beschäftigen. Ist der enorme Mehraufwand über den Umweg Fachwissen gerechtfertigt gegenüber dem (relativ geringen) Mehrwert, der bei den Produkten herauskommt? Ich weiß es selber nicht, aber die Didaktik sagt Nein. Beispiel aus dem hiesigen Schulbuch, Klasse 5/6: Kurzer Infotext über griechische Kolonisation, dann zwei Herodotstellen, die einander ergänzen und zusammen gesehen einen anderen Sinn ergeben als getrennt. M.E. ist das Einzige, was die Schüler an Vorwisen dafür benötigen, die Kenntnis von der Ursache/den Ursachen der Auswanderung. Ob es 600 oder 400 v. Chr. war, juckt die nicht und macht auch keinen Unterschied (für die meisten). Wie du richtig schreibst, fehlt es an Zeit, ein zusammenhängendes Gesamtbild zu konstruieren. Aus dem Grund muss auch das Fachwissen reduziert werden, weil sonst ein Missverhältnis entsteht.
    Das Fachwissen ist aber die Grundlage. Ich kann doch nicht die Grundlage weglassen, um dann irgendwas im luftleeren Raum zu zaubern. Da kann den Kindern doch nur zeigen, wie man es nicht macht. Was soll bitte der Lerneffekt an zwei Herodotstellen sein, die zusammen einen anderen Sinn ergeben als einzeln? Das man Bücher immer ganz lesen muss?

    Das die Kinder "blos" die Kenntnisse für die Ursachen und Gründe für die Auswanderung kennen müssen, ist ja ganz nett. Das ist eines der schwierigsten Probleme überhaupt an der Kolonisation. Der früher angenommene Grund "Überbevölkerung und Hungersnot" ist zumindest falsch.

    Ob 600 v. Chr. und 400 v. Chr. ist ein ganz wesentlicher Faktor. Wie sollen die Schüler jemals ein Gefühl für die Vergangenheit bekommen, wenn sie keine Daten lernen. Dabei spielt nicht die absolute Zahl eine Rolle, aber wenn man dann noch Herodot bringt, muss man zumindest den zeitlichen Abstand behandeln, der zwischen der Kolonisation und dem Schreiben des Werkes liegt und was sich da alles verändert hat.
    Wenn man dann später Alexander drannimmt, muss man durchaus wissen, ob die Kolonisation nun 10, 100, 300 oder 1000 Jahre her ist. Letztendlich führt kein Weg an Daten vorbei.

    Nicht zuletzt: Wenn die Schüler irgendwann mal fertig sind und an die Uni in einen historischen oder kulturwissenschaftlichen Studiengang wechseln wollen, dann brauchen sie die Fakten und Daten als Grundlage. Quellenkritik wird ihnen dort schon beigebracht, aber die Grundlagen müssen sie aus der Schule mitbringen.

    Zitat Zitat von Suite Beitrag anzeigen
    Und wieso Zeitzeugen keine akzeptablen Quellen sind, verstehe ich nicht. Sie sind eben nicht dafür geeignet, dass man ihre Aussagen von der Tafel ins Heft abschreibt und dann auswendig lernt, aber das bestreitet ja auch niemand.
    Wie oben ausgeführt, erzählen Zeitzeugen aus verschiedenen Gründen alles Mögliche, aber nie, wie es wirklich war. Geht nicht. Menschlich nicht möglich. Daher als Menschen vielleicht interessant, als Quelle für die Geschichtswissenschaften total uninteressant.
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  13. #463
    begossener Pudel Avatar von Des Pudels Kern
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    Zitat Zitat von Argonir Beitrag anzeigen
    Wie oben ausgeführt, erzählen Zeitzeugen aus verschiedenen Gründen alles Mögliche, aber nie, wie es wirklich war. Geht nicht. Menschlich nicht möglich. Daher als Menschen vielleicht interessant, als Quelle für die Geschichtswissenschaften total uninteressant.
    Das würde ich in der Pauschalität so nicht sagen. Es kommt auf den Blickwinkel an, den du gedenkst einzunehmen. Wenn jemand dir erzählt, wie er als Richtschütze einen Panzerangriff erlebte, ist doch klar, dass er das nur von seinem "Arbeitsplatz" aus berichten kann und nicht über dem ganzen schwebt und das Gesamtbild sieht. Zudem registriert und gewichtet sein Gehirn sicherlich auch subjektiv. Trotzdem ist er in der Lage, das Geschehene annähernd so wiederzugeben, wie es sich zugetragen bzw kann er das Mosaikstück dazusteuern.
    Ich finde das zB bei den Hitlerdokus auf N24 ganz anschaulich illustriert, wie - per Computeranimation - sozusagen in das Schlachtfeld hineingezoomt wird. Erst die Übersicht, dann immer näher ran bis man Private Paula oder Corporal Schneewittchen dabei zusieht, wie sie von Heinrich Severlohs MG zersiebt werden.
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  14. #464
    Ignoriert Mauern Avatar von Argonir
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    Zitat Zitat von Des Pudels Kern Beitrag anzeigen
    Das würde ich in der Pauschalität so nicht sagen. Es kommt auf den Blickwinkel an, den du gedenkst einzunehmen. Wenn jemand dir erzählt, wie er als Richtschütze einen Panzerangriff erlebte, ist doch klar, dass er das nur von seinem "Arbeitsplatz" aus berichten kann und nicht über dem ganzen schwebt und das Gesamtbild sieht. Zudem registriert und gewichtet sein Gehirn sicherlich auch subjektiv. Trotzdem ist er in der Lage, das Geschehene annähernd so wiederzugeben, wie es sich zugetragen bzw kann er das Mosaikstück dazusteuern.
    Nein, kann er nicht. Dazu ist das menschliche Gehirn nicht in der Lage. Frag mal bei der Polizei nach, wie es um Zeugenaussagen bestellt ist und bei denen handelt es sich meist um erst kurz vergangene Ereignisse, der Richtschütze saß vor über 60 Jahren in seinem Panzer.

    Zitat Zitat von Des Pudels Kern Beitrag anzeigen
    Ich finde das zB bei den Hitlerdokus auf N24 ganz anschaulich illustriert, wie - per Computeranimation - sozusagen in das Schlachtfeld hineingezoomt wird. Erst die Übersicht, dann immer näher ran bis man Private Paula oder Corporal Schneewittchen dabei zusieht, wie sie von Heinrich Severlohs MG zersiebt werden.
    Das mag anschaulich sein, ist aber genau deswegen abzulehnen, wenn man einen gewissen Anspruch hat. So wie gezeigt, hat es nie stattgefunden. Nichtmal so ähnlich.
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  15. #465
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    Ich fände es übrigens nicht einmal so verkehrt, einen "Zeitzeugen" besonderer Ereignisse in den Unterricht einzuladen, wenn es sich anbietet. Natürlich denke ich da nicht gerade an ein Mitglied der Totenkopfverbände, aber in höheren Klassen könnte man durchaus einen Menschen einladen, der beispielsweise als Jugendlicher zum Flakhelfer gemacht wurde, als Heimatvertriebener über die Integration in ein schwäbisches Dorf berichtet oder über seine Flucht aus der DDR erzählt. Natürlich müsste man diesen Besuch gut vorbereiten und intensiv nachbesprechen, aber ganz so kritisch wie du sehe ich das nicht. Auch unsere historischen Gewissheiten und Plausibilitäten beruhen häufig aus einer Kombination aus Akten, Augenzeugenberichten und Erinnerungen mit all der Unsicherheit, die damit natürlich verbunden ist.

    Das Problem wird hier tatsächlich eher sein, eine Person zu finden, die so etwas halbwegs interessant gestalten kann und auch etwas zu erzählen hat und gleichzeitig die Zeit zu finden, um die nötigen Vorbereitungen und Nachbesprechungen zu ermöglichen.

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