Die Bovaner
Kapitel 284 Wer kauft schon Wolle im Frühling?
Metrak ärgerte sich. Schon wieder. Mit zusammengezogenen Augenbrauen durchschritt er energisch den Raum.
Den Tisch mit den vielen Papierrollen hinter sich lassend, stapfte er durch den schmalen Torbogen hinein in einen weiteren Raum des Gebäudes. Dieser war größer als seine Arbeitsnische. Erheblich größer.
Unter der hohen Decke stapelten und zwängten sich allerlei Kisten, Krüge, Säcke, Ballen und unzählige Fässer. Fast bis zur grauen Decke reichten die gestapelten Waren. Es waren so viele, dass durch die oberen Öffnungen im Mauerwerk das Tageslicht kaum den abgenutzten Marmorboden berührte. Es war eng, stickig und dunkel. Die wenigen Öllampen rußten ohne große Helligkeit erzeugend ziemlich nutzlos von den Wänden. Die staubige Luft stand im Gebäude und kein Luftzug sorgte für ein wenig Abkühlung. Jetzt, wo das Jahr fortschritt, stiegen auch tagsüber die Temperaturen wieder an. Bald würde es so heiß werden, dass der Lagerraum einem gemauerten Lehmbackofen glich.
Doch noch war Spätfrühling. Noch war es erträglich. Allerdings nur für die Schreiber und die Boten. Die Sklaven mussten die körperlich schwere Arbeit verrichten. Ihre nackten Leiber glänzten vom Schweiß und ihr penetranter Körpergeruch vermischte sich mit dem Duft der gelagerten Waren. Feiner Ledergeruch, stark duftendes Tannenholz der Kisten und Fässer, harter Geruch von roher Wolle, leicht süßlicher Duft der Öle, salziger Trockenfisch, kühler Geruch von Metall und Eisen und ein zartes Bukett von kostbaren Gewürzen. Gemischt mit dem Schweiß der Sklaven, dem penetrant stinkenden Kot der Ratten, die das Korn verzehren und dem Gestank der Packtiere entstand eine einmalige Duftkomposition, die jeden Neuankömmling schwindlig werden ließ. Manch neuer Sklave verlor das Bewusstsein und fiel während der anstrengenden Arbeit einfach um.
Bisher hatten die schwachen Gemüter aber meistens Glück gehabt und sie wurden aufgefangen bevor sie zu Boden stürzten. Im vorigen Jahr gab es allerdings einen Todesfall unter den Sklaven. Niemand sah den Unglücklichen von oben herabfallen. Erst als sein schlaffer Körper hart auf dem Marmorboden aufschlug und platzte, wie ein prall gefüllter Weinschlauch, wurde reagiert. Doch niemand versuchte dem Gestürzten zu helfen. Es wäre auch aussichtslos gewesen, da seine Innereien und sein Hirn sich im nahen Umkreis verteilt hatten. Die Leiche wurde herausgetragen, auf einen Wagen geworfen und mit dem übrigen angefallenen Müll im nahen Fluss entsorgt. Die blutgetränkten Kisten und Ballen wurden, so gut es ging, gesäubert und die verpackten Waren zu einem Sonderpreis schnell weiterverkauft. Nur der dunkle Fleck auf dem hellen Marmor deutete daraufhin, dass hier Blut floss. Allerdings sind seit dem Vorfall viele tausend Schritte über diese Stelle gelaufen, so dass es einem Unkundigen nicht weiter auffiel.
Nur ein schmaler Gang inmitten der aufgetürmten Waren verlief durch den Lagerraum. Zu beiden Seiten des rechteckigen Gebäudes erhoben sich mächtigen Torbögen, durch die die Waren hinein-und hinaus transportiert wurden. An der rechten Außenwand führte eine wacklige Holztreppen zum oberen Stockwerk, wo weitere Handelswaren gelagert wurden. Es handelte sich um Güter, die lange haltbar waren. Bauholz aus dem Norden, Metall aus den Minen und Tongefäße aus Ligurien.
Die leicht verderblichen und stark nachgefragten Dinge und Güter lagerten im Hauptraum. Zurzeit herrschte eine rege Nachfrage nach Salz. Die Woche davor gingen Getreide und Hanf gut, und letzten Monat wollten alle das billige Öl haben, welches mit der letzten Karawane aus dem Süden kam.
So mussten die Sklaven stets das Warensortiment neu umgestalten. Die alte Ware musste herausgetragen werden, die entstandenen Lücken wurden schnellstens mit neuen Gütern gefüllt und dann wurde alles wieder neu sortiert. Tagein, Tagaus. Ohne Pause. Das Leben in einem bovanischen Lagerhaus glich einem emsigen Bienenvolk in seinem Stock.
Das Lagerhaus und die darin liegenden Waren hatten eine Größe erreicht, die ein Mann alleine nicht mehr überblicken konnte. Deshalb hatte Metrak für bestimmte Erzeugnisse einzelne Schreiber bestimmt, die in seinen Namen handelten und feilschten. Metrak wollte sich aus dem Tagesgeschäft in Zukunft mehr und mehr zurückziehen und nur die großen, wichtigen Tauschhandel mit zahlungskräftigen Kunden durchführen. Metrak wollte sich so mehr Zeit nehmen, die Aufzeichnungen zu kontrollieren und seinen Gewinn zu zählen. An den meisten Tagen funktionierte sein System auch. Doch manchmal lief etwas aus dem Ruder oder ein Handel wurde nicht gewinnbringend zum Abschluss gebracht. Jedesmal stieg die Wut in Metraks kleine Gestalt, wenn einer seiner Bediensteten sich mal wieder einen Fehler geleistet hatte. So wie dieses Mal.
So stapfte Metrak schnaubend durch den engen Gang Richtung Torbogen. An dessen linken Seite stapelten sich gerade die Jutesäcke, die vom nahen Wagen entladen wurden. Metrak kannte die Säcke zu gut. Seit seiner Kindheit, als er seinem Vater im Lager half, kannte er diese Säcke. Er hasste sie. Der Stoff ist hart und trocken, die Haut an den Händen wird brüchig und reißt, was am Anfang sehr schmerzhaft ist. Erst später bildete sich die schwielige Hornhaut. Dazu waren diese Säcke schwer und unhandlich. Man konnte sie mit den Armen nicht umgreifen, dafür waren sie zu groß. Auf dem Kopf konnte man sie ebenfalls nicht tragen, dafür waren sie zu schwer. Das Genick litt unter dem Gewicht und schmerzte permanent. Irgendwann bekam man einen starren Hals. Die Säcke wurden auf dem gebeugten Rücken getragen. Jemand half beim hochheben und dann lastete das Gewicht auf den gebeugten Körper. Abends taten einem alle Knochen weh.
Meltrak arbeitete nicht mehr schwer und musste schon lange keine Säcke mehr hochwuchten aber die Erinnerung an die weit zurückliegende Kinderzeit mit der harten Arbeit und die groben Jutesäcken ließ ihn immer wieder erschauern.
Schnell wischte er die Gedanken an seine Kindheit zur Seite, zählte die Säcke, die auf dem Boden lagen und dann die, die noch auf dem Wagen lagerten. Insgesamt 37 Jutesäcke gefüllt mit Rohwolle aus Ostbovanien.
„Bringt die Säcke rein. Beeilt euch.“ Metrak sprach laut und gebieterisch. Die buckelnden Sklaven gehorchten und legten einen Zahn zu. Ein namenloser Schreiber erschien und zeigte Metrak die Tonscherbe. Auf ihr waren der Name und das Siegel des Händlers, von dem die Ware stammte, die Menge der Wolle und des getauschten Gutes sowie der ausgehandelte Preis in einfacher Keilschrift notiert. Am unteren Ende deutete ein einfaches Symbol daraufhin, wer den Handel abgeschlossen hatte.
Die vier waagerechten Balken zeigten es. Metrak überflog die Zeilen und traute seinen Augen nicht.
Starak hatte insgesamt 37 Säcke Wolle von Hunaka dem Wayrether gekauft. Dafür erhielt er 10 Krüge einfaches Öl zum Braten von Speisen, sechseinhalb Ballen marthonsiche Leinen und 1 kleines Fass Pech. Metrak ging den Waren und deren Wert im Kopf durch. Das billige Öl war kaum von Wert, sie hatten genug davon, um halb Bovana damit zu versorgen. Für 10 Öl hätte Metrak vielleicht ein Schwein bekommen.
Ein erwachsenes Schwein, das reif für den Schlachter war. Oder zwei Kisten mit Äpfeln vom Vorjahr. Die rote Sorte, die keiner haben will, weil sie so sauer sind. Oder ein Doppelsack Korn von bovanischen Feldern, nicht das minoische Getreide. Das war viel zu teuer.
Ein halben Barren Kupfer hätte er vielleicht auch bekommen. Aber nur wenn der andere Händler einen schlechten Tag und keinen Lust zum Handeln hatte.
Metrak konnte mit der verkauften Menge Öl gut leben.
Dann die sechseinhalb Ballen Leinen. Das war etwas anderes. Das war nicht irgendein Leinen sondern marthonisches Leinen! Das Beste und reinste, was es im Umkreis gab. Das billige Leinen aus Corhallia, wenn man denn welches bekam, war keinen Fliegenschiss wert.
Es ließ sich schlecht bearbeiten und noch schlechter färben. Leinen war grundsätzlich schon schwer zu färben aber das aus dem Westen war nicht zu gebrauchen. Das Leinen aus Barthel ebenfalls nicht. Obwohl es besser war als, das aus Corhallia. Damit konnte man wenigstens einfache Brustpanzer herstellen.
Für einen Ballen marthonsiches Leinen hätte man auf dem Markt sicher 5 oder 6 junge Schweine bekommen. Für sechseinhalb Ballen also eine kleine Schweineherde für die Zucht oder als großzügiges Opfer für den Götter.
Kupfer und Eisen bekäme man für einen Ballen Leinen in rauen Mengen. Mindestens 10 Barren Kupfer oder 5 Klumpen Eisenerz. Für die sechseinhalb Ballen könnte man einen mittleren Wagen mit Metall füllen und hätte dann immer noch ein gutes Geschäft gemacht.
Oder man könnte drei Fässer mit Trockenfisch tauschen. Vielleicht wäre ein Ballen auch vier Klafter Bauholz wert. Nein. Fünf Klafter, wenn ich mich nicht irre. Nachdenklich schaute Metrak kurz ins Leere und versuchte sich zu erinnern, ob er schon einmal fünf Klafter Bauholz getauscht hatte.
Letzten Winter? Oder war es der Herbst davor? Aber was hätte ich dafür gegeben? Ach, ich und mein Gedächtnis. Metrak schüttelte den Kopf und resignierte. Er konnte sich nicht erinnern. Die Aufzeichnungen müsst er durchschauen. Zurück zum Leinen. Sechseinhalb Ballen. Ein ganz schöner Batzen! Da war das Öl kaum die Rede wert.
Doch nun zum Frevel. Wie kann Starak es wagen ein Fass Pech für Wolle zu tauschen? Und dann auch noch mit einem Wayrether? Ihr Götter, wollt ihr mich für etwas strafen? Habe ich in meinem Leben nicht ehrlich und tugendhaft gehandelt? War ich kein treuer Diener des Cepheus-ak? Habe ich nicht stets einen kleinen Obolus an den Tempel entrichtet und gebetet, wenn es nötig war?
Metrak konnte es nicht fassen. Einfache Wolle für ein wertvolles Fass Pech und dann auch an einen Wayrether verkauft. Die Wayrether leben für den Krieg, den sie gegen die ketzerischen Sarimiden führen und benötigen Güter für den Krieg. Eisen und Bronze für die Waffen und Rüstungen, Leder für Gurte und Riemen, Holz für Pfeile und Lanzen, Nahrungsmittel und natürlich Pech und Öl, um ein Feuer am Leben zu halten.
Die Wayrether tauschen alles für Pech und gutes Öl. Man kann sich aussuchen, was sie hergeben. Aber doch keine Wolle!
„Wo ist Starak jetzt?“, raunte er den Schreiber böse an.
„Auf dem Westmarkt, Herr.“, stammelte dieser erschrocken.
„Nimm dir ein paar Leute und hol ihn her. Sofort!“, befahl er dem überraschten Schreiber.
„Hierher?“, fragte er unsicher.
„Hast du damit ein Problem? Dann hau ab und komm niemals wieder.“
„Nein, Herr. Ich gehorche. Ich werde Starak herholen“, winselte er als ginge es um sein Leben.
Der Schreiber winkte einigen kräftigen Sklaven herbei, die gerade eine einfache Mahlzeit einnahmen und befahl ihnen ihm zu folgen. Mit festem Schritt marschierte der kleine Trupp durch das offene Haupttor auf die stark bevölkerte Straße.
Metrak sah verärgert auf die Wolle in seinem Hof. Wer will im Sommer schon Wolle kaufen? Na warte. Der kann was erleben.