Ich habe heute einer frei lebenden Amsel in einer Not-OP das Leben gerettet!
Ich weiß, ich weiß, kaum zu glauben. Aber es ist die Wahrheit. Eins vorab, ich kann leider keine Beweisfotos vorweisen. Dennoch ist die Anekdote erzählenswert ...
In dem Garten meiner Eltern beobachtete mein Vater, seines Zeichens Naturliebhaber und Erfinder im Ruhestand, ein Amselpärchen. Sehr zu seiner Freude zog besagtes Pärchen auch in diesem Sommer wieder ein Nest voller Jungen auf. Natürlich mit tatkräftiger Unterstützung meiner Eltern, die mittlerweile kistenweise Obst herankarren, welches liebevoll zerteilt auf den Rasen gelegt wird, wo Vater und Mutter Amsel es dann genüsslich aufpicken.
Natürlich sind die Amseln die Attraktion meiner verschlafenen Heimat. Vor allem die Spielgefährten meiner siebenjährigen Nichte kommen scharenweise vorbei und dürfen dann und wann - im Beisein von Opi und unter dem verlegenen Protest der Omi - auch mal einen staunenden Blick in das Nest voller aufgerissener Amselkükenschnäbel werfen.
Bis hierhin ist die Idylle perfekt. Aber Ihr ahnt es, ein Schatten zog sich über das scheinbar ungetrübte, heitere Leben. Wir waren uns zunächst nicht ganz sicher, aber irgendwas an Mutter Amsel schien nicht in Ordnung. Mutter Amsel hinkte. Und nicht nur das, ihr linker Fuß schien nurmehr ein Klumpen zu sein.
Doch schon bald schmiedete mein Vater einen Plan. Fangen wollte er Mutter Amsel, und sie dann vom Knoten befreien. Zunächst aber müssten die Piepmätze flügge sein und die scheue Mutter Amsel etwas mehr Vertrauen fassen. Mutter Amsel ist tatsächlich die ängstlichere, die zaghaftere. Nahezu romantische Szenen spielen sich ab, wenn Vater Amsel mit breiter Brust die gefährlichen menschennahen Brocken für die Familie erobert, oder wenn er Mutter Amsels Mahlzeit im hinteren Gartenteil mit wachen Augen deckt.
Heute Nachmittag nun trug es sich zu, dass mein Vater die Amselfalle installierte. Die Jungen waren ausgeflogen und der Apfel für Mutter Amsel einfach zu köstlich, um an die Gefahr zu denken. Ich war zum sonntäglichen Kaffee angetreten und betrachtete leicht ungläubig, wie sich der scheue Vogel hopsend in die Falle begab.
Schnapp! Vater zieht die Leine und Mutter Amsel ward gefangen. Geistesgegenwärtig erhebt sich nun Euer Zockerle und sieht vor seinem Auge in kristalliner Klarheit, was zu tun ist. Zunächst wird Snöpels zurückgepfiffen. Der Hund pariert, wie es sich gehört. Die Bahn ist frei für Dr. Zockerle, der wie der Wind in Mutters Bad stürmt, um sich dort mit Nagelschere und Pinzette zu bewaffnen. Das Operationsbesteck beisammen nähert sich der Medicus seiner Patientin.
Aus der Nähe offenbart sich erst das ganze Ausmaß der Tragödie. Zwei Fäden schlingen sich gnadenlos in den Amselfuß und lassen diesen zu absurder Größe anschwellen. Schneiden, vorsichtig schneiden, dass der Amselfuß nur nicht verletzt wird! Ich sehe in die angststarren Augen von Mutter Amsel und unterdrückte aufkommende Nervosität. Der Schweiß läuft in Strömen, ich verfluche meinen Pullover.
Ich bitte meinen Vater, der die ganze Zeit den Vogel mit dem dosierten Griff eines Fechtmeisters hält, Mutter Amsel die Augen zu bedecken. Ich bekomme die Fäden nicht gekappt. Man macht sowas nicht alle Tage, schießt es mir durch den Kopf.
Die Fäden - einer schwarzes Nähgarn, der andere in tückisch amselfußfarbenem hellgrau vermutlich aus Hanf - winden sich schier endlos. Sollte das Projekt nun scheitern? Mit einem Ton, der zugegeben ein wenig Professor Brinkmann zu imitieren versucht, bitte ich meine Nichte, ins Haus zu gehen. Mitfühlend und verzweifelt registriere ich, das Mutter Amsel panisch den Darm enleert. Dennoch ist sie ein tapferes Mädchen, denn sie wehrt sich kaum.
Wie ein Wüterich zertrenne ich nun Faser um Faser, Faden um Faden, schneide hier, schneide dort. Das Gewirr muss doch einmal ein Ende nehmen! Und tatsächlich, auf einmal ist das letzte große Knäuel entfernt. Kein Faden mehr übrig. Aufatmen. Der Fuß ist natürlich deformiert, aber ein keiner Stelle verletzt, nur die Ferse wund, aber ganz leicht nur, vom Scheuern der teuflischen Fäden.
Die Operation war also vollbracht. Wir riefen meine Nichte, da es nun doch ein happy end gab. Mein Vater entieß Mutter Amsel nun wie eine olympische Taube zurück in die Freiheit. Im Nachhinein muss man sagen, dass Mutter Amsel aber weitaus weniger stilbewusst eine horizontale Flucht in die Hecke einem feierlichen Hochsteigen vorzog.
Gleichwohl triumphierend standen Opa, Oma, Nichte und schließlich Euer Dr. Zockerle (schweißgebadet und sein Operationsbesteck noch immer in den Händen) im Garten und riefen Mutter Amsel Genesungswünsche hinterher.
Warum ich Euch das mitteile? - Einfach nur so.