Zitat von
Peter Glaser in der TR
Etwa 80 Millionen Blogs lassen die Beobachtung, die der Soziologe Michael Rutschky schon vor Jahren gemacht hat – dass nämlich alle nur noch schreiben wollen und keiner mehr liest – in einem neuen Licht erscheinen. Die wundervollen Zumutungen dieser Äußerungsmengen – einer Welttextmasse, die zwischen Zunahme und Tsunami oszilliert –, stellen einige Professionen ernsthaft in Frage: Literaturwissenschaftler beispielsweise stehen vor der Frage, ob sie ihrem Fachbereich künftig die Biotechnologie eingemeinden sollen – oder ob die vormalige Germanistik eventuell ein Appendix der Gentechnik wird. Im Raum steht die Möglichkeit, dass künftige Dichter nicht mehr auf Papier oder Bildschirmen schreiben werden, um ein Maximum an Ausdruckswirkung hervorzubringen, sondern direkt in die Gene – woraus dann nicht mehr Leser hervorgehen, sondern Geschriebene.
Und in einer Zeit, in der Suchmaschinen nach wie vor einem aufgedrehten Feuerwehrschlauch gleichen, an dem man seinen Wissensdurst zu stillen versucht, ist auch die hergebrachte Exklusivität eines Berufsbilds wie das des Journalisten nicht mehr zu halten (wohlgemerkt: die Exklusivität, nicht das Berufsbild). Es wäre schlichtweg unverantwortlich. Was bisher ein Ausbildungsberuf war – der versierte Umgang mit Nachrichten, Recherche, Verfeinerung des Gespürs für Fakes und Fakten – muss heute eine Anforderung an die Allgemeinbildung werden. Ähnlich stehen die Wissenschaften in der Pflicht, ihre in Jahrhunderten entwickelten Organisationsweisen für Geistesgüter (und natürlich diese selbst) als kulturelle Katastrophenhilfe schnellstmöglich an die gefährdeten Küsten der aufgewühlten Datenozeane zu bringen.
"Information...", seufzte ein Romanagent noch 1945, "was stimmt nicht mehr an Drogen und Weibern?". Kein Wunder, dass die Welt verrückt spielt, seitdem Information zum einzigen realen Tauschmittel geworden ist. Die richtigen Ideen zur falschen Zeit nützen aber auch nichts. Ein klassisches Beispiel ist die Web-Applikation "Third Voice", die sich im Sommer 1999 auszubreiten begann. Es war eine Zeit, zu der die ausschlaggebenden Informationen erstaunlicher Weise mit Rauchsignalen übermittelt wurden – über Feuern aus verbranntem Geld.
Mit "Third Voice" jedenfalls konnte man elektronische Haftnotizen an jeder beliebigen Website hinterlassen, auch ohne dass der Betreiber es merkt. Über diese unzensierten Randbemerkungen brach eine außerordentlich aufgeregte Debatte aus. Die Betreiber von Websites, vor allem Unternehmen, fürchteten sich vor Geschäftsschädigung; andere sahen darin eine verbesserte Information der Konsumenten. (Dass man ein gutes Geschäft machen konnte, auch wenn man Verrisse der eigenen Produkte in seinem Online-Laden zuließ, hatte Amazon damals gerade unter Beweis gestellt.)
Wieder andere fürchteten, Programme wie "Third Voice" würden Netsurfer dazu verleiten, ihre Meinung lieber insgeheim als offen zu äußern. Zu viele Site-Betreiber hatten Angst davor, die Kontrolle über die Kommunikation zu verlieren – echte Interaktivität als Horrorvorstellung. Kurze Zeit später war Third Voice aber wieder verschwunden. In der Blogosphäre feiert die Absicht heute fröhliche Urständ. Wobei diesmal die Gefahr aus dem Erfolg kommt. 80 Millionen Stimmen – welchen 100 oder 200 (mehr geht nicht) soll ich zuhören?