Die zweite Frau: Anne Boleyn
In die Zeit von Henrys theologischen Ambitionen fiel nämlich auch seine Affäre mit Mary Boleyn, der Tochter eines Diplomaten. Von Henrys Affäre, die sehr diskret verlief, weiß man heute nur, weil er in heißer Liebe zu Marys Schwester, Anne Boleyn, entbrannte. Diese Frau wollte er haben, aber Anne Boleyn ging die Sache kalkuliert an. Als sie merkte, wie sehr der König sie haben wollte (das war nicht schwer, er schrieb ihr ständig Liebesbriefe), machte sie ihm klar, dass sie nicht einfach eine austauschbare Geliebte werden wollte. Gerne könne sie sich ihm hingeben, aber erst, wenn er sie geheiratet und sie zur Königin gemacht hat. Anne pokerte also sehr hoch, aber Henry war eben ganz vernarrt in sie. Anne Boleyn war wahrhaftig eine tolle Partie: Schön anzusehen, von erlesener Bildung und vollendet in ihren Umgangsformen.
Jetzt entdeckte der König sein Gewissen, was die Ehe mit der gealterten Katharina anging. Wie war das noch verlaufen damals, als sie heiraten sollten? Zuvor war Katharina mit seinem älteren Bruder Arthur verheiratet gewesen, und spätestens wenn die beiden mal intim geworden sein sollten, sah das Kirchenrecht die verschwägerten Henry und Katharina als Geschwister an. Der Papst hatte sich seinerzeit mit dem Argument aus der Affäre gezogen, man könne ja nicht wissen, ob Katharina und Arthur während ihrer Ehe tatsächlich das Bett miteinander geteilt haben. Jetzt verlangte Henry VIII. von Wolsey, er solle dafür sorgen, dass seine Ehe mit Katharina wegen dieses kirchenrechtlich konstruierten Inzest annulliert wird. Eine Ehe für nichtig erklären, das konnte aber nur der Papst machen.
Wolsey machte sich ans Werk und diskutierte mit dem König die Strategie. Natürlich musste gegenüber dem Heiligen Vater verschwiegen werden, dass es Henry VIII. darum ging, Anne Boleyn zu heiraten. Es musste grundsätzlicher argumentiert werden: Der König habe in der Bibel im Dritten Buch Mose gelesen, dass es eine schreckliche Sünde sei, wenn ein Mann die Frau seines verstorbenen Bruders heiratet. Dummerweise stand in der Bibel an einer anderen Stelle zugleich das Gegenteil: Ein Mann solle sich um die Frau seines Bruders kümmern, wenn dieser verstirbt, und sie zu seiner Frau nehmen. Natürlich entschied man sich für die erste Leseweise: Der König leide furchtbar darunter, dass er in Sünde lebe, weil er die Witwe seines Bruders geheiratet hatte. Und stand im Dritten Buch Mose nicht weiter: „Sie sollen ohne Kinder sein, denn er hat damit seinen Bruder geschändet“, was Wolsey großzügig mit „sie sollen ohne Söhne sein“ übersetzte. Das also war die Erklärung für das Fehlen eines männlichen Thronerben! Gott strafte Henry und Katharina für ihre Sünden, und das brachte die Thronfolge des ganzen englischen Königreichs in Gefahr. Also bitte schön, hier musste der Papst doch was unternehmen!
Bei aller Berechnung kann man Henry VIII. wohl nicht absprechen, dass er wegen dieser Angelegenheit tatsächlich einige Sorge um sein Seelenheil hatte. Es war ihm ernst mit der Forderung, der Papst müsse seine Ehe mit Katharina annullieren. Nur spielte Katharina bei der Sache nicht mit, wie sich der König das wünschte. Bei einer offiziellen Anhörung – skandalös genug, dass sie ihr überhaupt zugemutet wurde - fiel sie flehend auf die Knie, sie sei dem König eine immer treue und liebende Ehefrau. Außerdem sei die mit Arthur geschlossene Ehe nie vollzogen worden, ihre Heirat mit dem König also ohne Sünde. Katharinas Antwort zu der beabsichtigten Scheidung war eindeutig: Nunca. Niemals. Die Szene war für Henry ziemlich unangenehm, immerhin war die Königin äußerst beliebt und hatte sich immer tadellos verhalten. Und was nicht vergessen werden durfte: Katharina war ja kein Niemand, sie war eine Angehörige des spanischen Königshauses. Und das wurde nach dem Tod von Ferdinand bzw. nach dem Tod Philipps des Schönen von Karl V. geführt – kein Geringerer als der spanische König und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches in einer Person. So jemandem schickte man nicht einfach eine Prinzessin wegen Nichtgefallen zurück!
Beide Seiten, König Henry und Kaiser Karl, übten nun Druck auf Papst Clemens VII. aus, er solle sich in dieser Streitfrage ja gut überlegen, mit wem er sich womöglich anlegt, wenn er dazu Stellung bezieht. Kein Wunder, dass die theologische Debatte an Fahrt aufnahm: Die Stelle im Dritten Buch Mose beziehe sich nur auf Juden, sagten die einen. Falsch, entgegneten die anderen, auch im Neuen Testament stehe unter Markus 6.18: „Denn Johannes hatte zu Herodes gesagt: Es sei nicht recht, dass du deines Bruders Frau hast.“ Und überhaupt, argumentierte Wolsey spitz, der damalige Ehedispens des Papstes Julius mache doch nur Sinn, wenn er davon ausgegangen war, das Arthur und Katharina die Ehe vollzogen hatten. Das war ja eben nicht der Fall gewesen, denn Julius II. hatte formuliert, die Ehe sei „vielleicht“ vollzogen worden. Der Einlass von Wolsey war damit ein Zweifel an der Unfehlbarkeit des Heiligen Vaters – ein solcher Affront führte eigentlich geradlinig zu der Loslösung von Rom!
Natürlich wurde irgendwann doch ruchbar, dass es Henry bei der Scheidungsangelegenheit im Grunde darum ging, seine geliebte Anne Boleyn heiraten zu können. Das machte den Skandal für Kaiser Karl V. noch unerträglicher. Er ließ den Papst wissen, dass es ernste Konsequenzen haben würde, wenn er die Scheidung erlauben würde. Für ihn, den Kaiser, sei es kein Problem, mit einem Heer nach Rom zu marschieren und ihn als Papst schlicht abzusetzen. Jedenfalls würde die spanische Krone es niemals akzeptieren, wenn eine Angehörige seiner Dynastie derart entehrt werden würde. Aber auch Henry VIII. legte bei Clemens VII. nach: Wenn der Papst seiner Scheidung nicht zustimmen würde, dann würde das für die katholische Kirche in England ernste Folgen haben. Die protestantische Lehre könne dann seine Aufmerksamkeit erlangen, er als König habe die Macht, eine eigene, anglikanische Kirche zu gründen – mit sich selber als ihr Oberhaupt. Dann bräuchte er den Papst in der Scheidungsangelegenheit oder irgendeiner anderen Sache niemals mehr um Erlaubnis fragen. Wer will es dem Papst verdenken, dass er unter diesen Umständen auf Zeit spielte? Irgendwann würde Henry VIII. seiner Geliebten überdrüssig werden, dann würde sich das Thema hoffentlich von selbst erledigen.
Diese Debatte zog sich inzwischen schon Jahre hin, und noch immer hatte Henry weder Katharina in die Wüste noch Anne in sein Bett locken können. Wütend ging er 1527 seinen Lordkanzler Wolsey an, er solle endlich etwas unternehmen. Der bat seinen König um Geduld, alles werde sich bald zum Guten fügen. Immerhin hatten Landsknechte des Kaisers kürzlich Rom grausam geplündert (Sacco di Roma) und Karl V. hatte gar den Papst verschleppt, doch der hatte sich aus der Gefangenschaft absetzen können. In einer derart bedrängten Lage, erklärte Wolsey dem König, sei Clemens VII. ein leicht zu gewinnender Partner für England. Aber der König hatte keine Geduld mehr, er wartete jetzt schon fünf Jahre, dass Wolsey seinen Job erfüllt. Dabei war inzwischen der gesamte europäische Adel gegen die Scheidung, England war außenpolitisch isoliert. Selbst das englische Volk, das Katharina verehrte, hatte kein Verständnis für diese Posse. Henry ging inzwischen auf die vierzig zu und hatte immer noch keinen Sohn, er wollte die Sache jetzt endlich durchziehen. Anne Boleyn bestärkte den König darin, dass Wolsey nun endlich liefern müsse.
Am 31. Mai 1529 trat auf Druck des Königs hin ein Gericht unter Leitung Wolseys in London zusammen, um über die Annullierung der Ehe zu entscheiden. Natürlich erkannte Katharina das Gericht nicht an und unterstrich, dass nur der Papst in Rom darüber zu befinden habe. Damit hatte sie ja auch recht, der ganze Prozess drohte zu scheitern. Wolsey bekam es langsam mit der Angst zu tun, denn der König würde ihn persönlich dafür zur Rechenschaft ziehen, wenn er in der „großen Angelegenheit seines Königs“ versagt. Wolsey schrieb voller Angst sogar an den französischen König, dieser möge doch bitte die Scheidung unterstützen, ansonsten sei er, Wolsey, ruiniert und sei nie mehr in der Lage, dem französischen König einen Dienst zu erweisen. Das aber zog nicht, denn der Sturz des einst so mächtigen Kardinals zeichnete sich bereits ab. Henrys Meinung über Wolsey kippte jetzt um: So sehr, wie er ihm zuvor vertraut hatte, sah er Wolsey nun mit Argwohn. Handelte der Lordkanzler nicht häufig eigenmächtig und machtbesessen, untergrub Wolsey damit nicht die königliche Autorität? Ein Anlass, Wolsey anzuklagen, war schnell bei der Hand. Henry pickte die dubiose Wahl einer Äbtissin in einem Kloster in Wilton heraus, bei der Wolsey sich mit unlauteren Mitteln eingemischt hatte. Von der Sache wusste Henry schon länger, er hatte Wolsey zuvor bereits einen maßregelnden Brief geschrieben, bei dem er im Ton aber noch freundschaftlich geblieben war.
Doch jetzt hatte Wolseys Stunde geschlagen: Clemens VII. hatte die Vollmacht für das englische Gericht, die Wolsey ihm zur Unterschrift gesandt hatte, verbrannt, und das Annulierungsverfahren Henrys nach Rom verwiesen. Dort eröffnete man im Juli 1529 die Verhandlung vor zahlreichen Beobachtern, die ein Urteil erwarteten. Doch das römische Gericht erklärte lediglich, die Verhandlung müsse aufgrund zahlreicher noch zu prüfender Dokumente bis Oktober vertagt werden. Großes Schweigen herrschte im Saal. Dann sprang der Herzog von Suffolk auf, Henrys Schwager und einst sein bester Freund, schlug mit der Faust auf den Tisch und rief: „In England ging es noch nie fröhlich zu, wenn Kardinäle unter uns waren!“ Das war der Auftakt. In ganz England machte die Nachricht die Runde, dass Kardinal Wolsey gestürzt sei.
Am 9. Oktober 1529 wurde Wolsey aller seiner Ämter enthoben. Er habe, so lautete die Begründung, als päpstlicher Legat in England die königliche Autorität unterminiert. In den 44 Anklagepunkten fanden sich nicht nur politische Vergehen. Unter anderem beschuldigte man den Kardinal, den König absichtlich angehaucht zu haben, um ihn mit der Syphilis zu infizieren. Es gab genügend Leute, die Wolsey jetzt gerne vernichten wollten. Der König hielt sich damit noch zurück und versetzte Wolsey in seine Diözese York, die dieser noch nie besucht hatte, obwohl er seit 1514 Bischof von York war. Hier hätte Wolsey in Ruhe einen würdigen Abschluss finden können, aber er ging noch einmal aufs Ganze. Er verwendete seine Kontakte zu Vertretern des Kaisers und Frankreichs, um den König zu einer Politik zu bewegen, die Wolseys Rückkehr ins Machtzentrum möglich machen sollte und gleichzeitig Anne Boleyn und ihre Fraktion kaltgestellt hätte. Mit diesem Vorstoß verkalkulierte sich der alte Fuchs erheblich, das Verhalten war für Henry VIII. schlicht Hochverrat. Im November 1530 wurde Wolsey endgültig verhaftet und zu seiner Hinrichtung nach London transportiert. Lediglich der krankheitsbedingte, natürliche Tod am 29. November bewahrte Wolsey vor der sicheren Exekution.